@ Frank
Ja.
Sonnabend
Von Liberec ins Isergebirge
Irgendwann zwischen 20 und 30 wird die eigene Schlafgewohnheit zum übellaunigen Nörgler, der unter fremden Matratzen jede vergessene Erbse erpürt und nur noch im Abdruck des eigenen Lakens seinen nächtlichen Frieden findet. Dann wälzt man sich dem heimischen Kanapee entrissen unter eigenen und fremden Ausdünstungen schniefend und schnaubend von einer Viertelstunde zur nächsten, erst hoffend, dann - irgendwann nach 04:00 - bettelnd, daß der Mückenschwarm zielloser Gedanken endlich abziehen möge. Dazu knurrt der Magen des Mitbewohners über die hastig verschlungene Pasta und piepsen die Ladeanzeigen von gleich zwei Garmins gemeinsam gegen die am taghellen Fenster vorbeidonnernde Regionalbahn.
05:45 erlöst uns das mehrstimmige Geschrei der Handys aus der ruhelosen Nacht, und kaum später brodelt bereits das Lebenselixier der Sachsen in bejars Kaffeemaschine. Ob unser Gastgeber je die Szenen vergessen wird, die sich in diesen zwei Tagen an seinem Küchentisch abgespielt haben? Mit Entsetzen sieht er den Inhalt seines Kühlschranks auf unzähligem Kleingebäck in den hungrigen Schlünden der eingefallenen Hochleistungsstoffwechsel verschwinden. Die Radfahrermast macht auch vor vorgestrigem Backwerk nicht halt, das scheibliert und dick mit Nutella bestrichen als Wegzehr in die bereits übervollen Trikotaschen wandert.
07:16 sitzen, liegen, schnarchen wir von Vortag und der Schlacht am Buffet ermattet in der Bahn nach
Liberec. Die acht Kühltürme des Kohlekraftwerkes von
Turów bestimmen die Szenerie, als wir die Landesgrenze passieren und für die zwei Kilometer auf polnischem Gebiet sicher eine halbe Stunde benötigen. In
Hrádek n.N. wechseln Gleiszustand und Zugpersonal, und entlang der Lausitzer Neise schiebt sich die tschechisch-deutsche Bahnunternehmung an den Rand des Jeschkengebirges.
Als sanften Start in das siebenstündige Kletterabenteuer wählen wir den Aufstieg nach
Bedrichov, der mit mäßigen Gradienten den müden Waden schmeichelt und traumhafte Ausblicke auf
Liberec und den
Ješted freigibt. In
Jiretín pod Bukovou ereilt uns eine vorübergehende Schwäche im Lesen tschechischer Verkehrszeichen, die es uns ermöglicht, auf das unscheinbare Serpentinensträßchen nach
Mariánská Hora einzubiegen. Die ordentlich steilen drei Kilometer erinnern etwas an
Malá Velen und haben wieder diese herzerwärmende Anmutung von Puppenstube, die sich über schmale Brücken und verwegen angelegte Straßenschlaufen zwischen die Vorgärten harkender Großväter wie eine Zeitlupe legt. Dazu blinzelt unser wohlmeinendes Zentralgestirn durch das Nadelholz des Isergebirges, daß selbst unser Sprinter respektvoll das Rasseln seiner Lungenflügel beruhigt und genußvoll nach oben kurbelt. Noch trunken vom Aufstieg verpassen wir den Abzweig nach
Albrechtice und stöckeln schließlich zwischen den Wackersteinen eines vergessenen Waldpfades in Richtung
Desna.
Hier hat bejar für uns die "Príkrá" ausgesucht, eine verteufelt steile Rampe zur
Štepánka, die sich einen dolosen Spaß daraus macht, jedes Höhenlinienbündel ohne Zuhilfenahme verweichlichender Kehren zu überwinden. Ich gebe meinen Begleitern einen Vorsprung, um einerseits den Konkurrenzdruck im Anstieg etwas zu entschärfen und andererseits mit der Knipse den für peso maßgeschneiderten Anstieg festzuhalten. Auf dem Gipfel setzen bereits die ersten zaghaften Diskussionen über den Geisteszustand des Tourenscouts ein und wird mit zittrigen Daumen das gespeicherte Profil auf den Navigationsgeräten in Richtung Ziel gescrollt.
Der rasanten, leider bei
Lhotka recht tschechischen, Abfahrt folgt ein einigermaßen uninteressantes Intermezzo von 200 Höhenmetern nach
Jírkov, bevor der übersteile Aberwitz nach
Železný Brod die Hintern schwer auf die Sättel und die Herzen nur unweit höher in die Radhosen presst. Die Bremshebel biegen sich bereits gefährlich nah an die Lenker und der überschießende Hangabtrieb degradiert jedes Vorfahrtsschild zum funktionslosen Zeugen unserer Stoßgebete. In der alten Glasmacherstadt rechts der Iser überfallen wir einen natürlich auch am Wochenende geöffneten Supermarkt und entführen den Wocheneinkauf einer Großfamilie auf die nächste Parkbank. Charlie testet die Toleranz seines Magens mit einer Dose Tunfisch, während Sippe literweise Apfelsaft in den diversen Flaschenöffnungen verschwinden läßt und Boris bereits die besorgten Blicke eines tschechischen Radfahrers spürt, der sofort protektionistisch den Arm um seine schöne Freundin legt.
Die nächsten 13 Kilometer zum gut 500 Meter höher gelegenen
Cerná Studnice nutzt Charlie mangels Konkurrenz zu einem Bergzeitfahren. Ein schöner Anstieg mit unterschiedlichen Charakteristika auf seinen Teilabschnitten, den ich in
Dolní Cerná Studnice noch etwas spannender zu gestalten versuche, als ich einen kehrenverkürzenden Strich auf dem Display ausmache, wenig später gewohnt unternehmungslustig bei 18% auf einem Kiesweg stehe und schließlich das Vorderrad in eigener Wahrnehmung vornehm artistisch wieder über den Absatz zur Hauptstraße hebe. Leider hält eine neben der Gipfelbaude mit rostigem Klettergeländer versehene Felsformation nicht das, was ihre Höhe als Ausblick versprach und ließ mich zwischen tschechischen Kobolden bald wieder hinab klettern.
Malerisch passieren wir
Malá Skála, blicken im Anstieg nach
Frýdštejn zur
Felsenburg Vranov und beschäftigen uns dank der angenehm niedrigen Steigung im Geiste schon einmal mit dem Schlußanstieg zum
Ješted, zu dessen letzten zwei Kilometern ich die Fragen der Mitfahrer lieber nicht mehr beantworte. Ein unsauber geklickter Streckenwurm entführt uns unvorbereitet auf die im Profil rot gezeichnete Nebenstraße ins Nirgendwo, der wir auf halbem Irrweg nach oben aber nicht die Befriedigung geben wollen, uns zur Umkehr gezwungen zu haben. Die Steigung endet knapp vor dem schmerzhaften Auseinanderfließen der strapazierten Muskulatur und beschert jetzt auch mir die verstohlenen Blicke von der Seite, mit denen man meinen Geisteszustand zu überprüfen scheint.
In
Hodkovice nad Mohelkou verhelfen Kaffee, preiswert erstandenes Elektrolyt und bildschöne Tschechinnen der Stimmung wieder auf die Beine, die sich zunächst knapp 200 Höhenmeter lang über
Záskalí mit dem Hausberg Liberec' im Blick auf die letzte wirkliche Steigung des Tages freuen dürfen. Der Herr über die Bahnkarten kurzmitteilt uns am Fuße des
Ješted seinen Standort als ein Eiscafé in Zittau und beseitigt so den letzten Zweifel über die verbleibende Streckenführung. Vor zwei Jahren, als mich Barus zum Gipfel trieb, war die Stadtseite des beliebtesten Ausflugsziels von Liberec noch abgefräßt worden - nun führt eine hervorragende Asphaltdecke fast bis zum stets windigen Gipfel. Leider ist die Auffahrt auch für PKW und Motorräder bis ganz nach oben erlaubt, die sich einigermaßen aufdringlich zwischen die bemerkenswert zahlreichen Fahrradfahrer quetschen. Der Ausblick in 1000 Metern Höhe ist dann alle Mühen wert, und nachdem Charlie aus dem Herzen der Finsternis mit gezeichnetem Gesicht wieder aufgetaucht war, stürzten wir uns jauchzend in die kurvenreiche Abfahrt.
Den von uns eingeschlagenen Radweg über
Zdislava kann man Nachahmern inzwischen nicht mehr empfehlen, auch in Tschechien furchte sich der Winter unübersehbar in den Asphalt. Eine letzte Anhöhe nach
Horní Sedlo überrollen wir im Drang nach Dusche und Döner, queren wiederum für einen Kilometer polnisches Staatsgebiet und erreichen nach 160 km schließlich
Zittau.
Strecke bei Google Maps
160 km / 3900 hm