Rennbericht Deutsche Meisterschaft Erfurt

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Chelm
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Rennbericht Deutsche Meisterschaft Erfurt

Beitrag von Chelm » Do 30. Jun 2016, 18:02

Da mich Erdnah via Strava gebeten hatte etwas zum Rennen und der abstrus hohen Durchschnittsgeschwindigkeit von 48,0km/h über 4,5 Stunden zu schreiben, möchte ich dies nach etwas längerer Abstinenz vom RRL-Forum auch gerne wahrnehmen.

Am Sonntag, den 26.06.2016 sollten in Erfurt die deutschen Profimeisterschaften um 11:30 Uhr starten. Die Strecke war gänzlich unspektakulär. Es standen 14 Runden a 15,6km mit ca. 70hm an.
Topografisch waren die größten Hindernisse eine Brücke und der kurze „Anstieg“ nach der Abfahrt von einer Schnellstraße.
Der Kurs galt schon von vornherein als maßgeschneidert für den Lokalmatador Kittel, womit ein Massensprint erwartet wurde.
Zur deutschen Meisterschaft dürfen alle deutschen Profilizenzinhaber, sowie Amateure mit UCI-Punkten, Landesmeister oder Bundesliga-Mannschaftsfahrer (dieser Spezies gehöre ich an) starten. So kamen am Ende 199 Starter zusammen, wobei sich ca. 100 Profilizenzinhaber darunter befanden.
Die Renntaktik fast aller Teams war das Rennen schwer zumachen um einen reinen Massensprint gegen die Superstars Kittel und Greipel zu vermeiden. Des Weiteren ist es natürlich ein Werbefaktor für die kleinen Teams eine Fluchtgruppe zu besetzen. Unser Team, Cycling Team Sachsen, hatte ebenfalls dieses Ziel, die Gruppe zu besetzen, und am Ende für den schnellen Martin Bauer eine Chance in einem möglichen Sprint zu ermöglichen.
Also ging es am Start direkt los und die Anzeige schnellte auf 50km/h garniert mit wechselnden Passagen von 60-70 km/h. Es war wirklich interessant wie jeder attackierte und auch jeder hinterherfuhr. Aus der Innenstadt von Erfurt ging es schnurgerade heraus mit einigen leichten Kurven. Nach ca. 4km dann eine 90° Rechtskurve und es folgte der leichte Anstieg über eine Brücke mit einer kurzen Abfahrt bevor man für 4 km auf die B7-Schnellstraße fuhr. Diese Schnellstraße bot in Verbindung mit dem Westwind (ca.3 bft) die Möglichkeit einer Windkante, welche aber nicht hart genug war um das Rennen darüber zu entscheiden. Sich aber über die Distanz für kleinere Selektionen eignete.
Danach fuhr man von der Schnellstraße ab, es folgte eine scharfe Rechtskurve und man sprintete einen kleinen Hügel bergauf, welcher gleichzeitig die Verpflegungszone war. Danach ging es über eine leichte Abfahrt zurück ins Stadtzentrum von Erfurt.
1,5 km vor dem Ziel folgte nach einer Rechtskurve eine kurze Tunneldurchfahrt und eine Links-Rechts-Kombination führte zur ca. 800 m langen Zielgeraden.
Nach 2 Runden war mir klar, dass hier keine normale Gruppe wegfahren kann, wie auch, wenn man die ganze Zeit 49 km/h fährt. Zur Rennhälfte hatte ich immer noch 48,9 km/h im Schnitt.
Ich kann das gar nicht recht erläutern, aber es war irgendwie eine Zeitmaschine, man ist gefahren wie im Tunnel: Fokussiert auf das Hinterrad des Vordermanns und bloß nicht den Windschatten verlieren. Ich war zwar in der ersten Runde noch unter den ersten 50 Fahrern positioniert gewesen, verbrachte aber eigentlich den Rest des Rennens im hinteren Renndrittel. Das war für mich deutlich entspannter. Nur auf der Windkante musste man aufpassen, dass es nicht doch vor einem einmal reißt. Als sich kurz vor der Rennmitte eine wirklich prominente 8 Fahrer Gruppe mit Greipel und Martin bildete, wurde es im Feld auf einmal unangenehm schnell. Soll heißen: Vorne reagierte Giant-Alpecin, welche in der Gruppe nicht vertreten waren und fuhren das Loch zu. Da merkte ich zum ersten Mal wie im hinteren Feld „gewackelt“ wurde. Nach 2 Stunden dauerdrücken mit ca. 250 W wahr es einigen Fahrern dann wohl langsam zu viel. So kam es ab jetzt vermehrt zum Wegbröckeln auf der Windkante. Ich persönlich war sehr überrascht, wie „gut“ es bei mir ging. Mit 7900 km hatte ich im Vorfeld den geringsten Kilometerstand mit dem ich jemals zu einer DM angetreten war.
Ich versuchte aber auch Körne ohne Ende im Windschatten des Feldes zu sparen.
Nach 144 km durfte eine 5 Mann Gruppe dem Feld für kurze Zeit entfliehen. Von uns war Florian Kretschy dabei. Das war die entspannteste Phase im Feld. Wir fuhren tatsächlich eine Runde mit nur 42,6km/h. Da brauchte ich mal nur 173W für eine Runde. Danach wurde aber wieder angezogen und man fuhr wieder 46-48km/h und die Gruppe wurde zurückgeholt. Nach 170km hatte ich wohl so etwas wie einen Finalflash und bin auf der Windkante mal nach vorne gefahren, sodass ich einmal unter den ersten 30 in die Erfurter Innenstadt eingefahren bin. Danach wurde es zunehmend zügiger und ich sprach mit unserem Sprinter, Martin Bauer. In der drittletzten Runde half ich ihm über die Windkante hinweg, allerdings klappte es in der vorletzten Runde nicht noch einmal.
Hätte ich in der letzten Runde „Überbums“ gehabt, hätte ich es evtl. auch einmal mit einer Attacke versucht, aber so war ich doch froh, überleben zu dürfen.
Ca. 2 km vor dem Ziel kam es dann in der Mitte des auf 120 Fahrer ausgedünnten Feldes zu einem Sturz, der dann für kleinere Gruppen sorgte. Ich rollte am Ende mit 58 Sekunden Rückstand auf den neuen deutschen Meister Greipel auf Position 95 über die Ziellinie.
Als Fazit für so ein Rennen, welches wohl auch eine Kriteriumsmeisterschaft hätte sein können, bleibt nur festzuhalten: Als Sprinter mit Nerven wie Drahtseilen, von dem Keiner einen unbedingten Erfolg erwartet, hätte es gereicht 210km im Windschatten des Feldes zufahren um sich dann auf der letzten Windkante nach vorne bringen zulassen um dann zu sprinten.
Als Zusatz muss ich noch erwähnen, dass die Leistung die Tony Martin über die 4,5 Stunden erbracht hat unglaublich war. Er war quasi immer vorne und ist Löcher zugefahren oder war selbst in der Gruppe. Seine besonders starke Vorstellung hat den Massensprint sicherlich zu einem großen Teil erst möglich gemacht, genauso wie das Bestreben von allen Teams in einer Gruppe zu sein um sich damit gegenseitig zu neutralisieren.
Ich selbst bin nach 4,5 Stunden Motortraining mit 250 W und 47,9 km/h im Schnitt über die Ziellinie gerollt. Ich bin sicherlich kein Radrennen gefahren, was bedeutet hätte, dass ich etwas zum Rennen beigetragen hätte, aber realistisch betrachtet war es das was ich abrufen konnte und mich somit ins Klassement gebracht hat.
Sportliche Grüße

Stefan

Link zur Strava-Aufzeichnung: https://www.strava.com/activities/621812978/
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Re: Rennbericht Deutsche Meisterschaft Erfurt

Beitrag von Karbe » Do 30. Jun 2016, 19:44

Danke für die interessanten Einblicke und Glückwunsch zur tollen Leistung.
Im mdr-Bericht warst du glaub ich ein-, zweimal zu sehen.

Grüße
Die Welt ist bunt.

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Re: Rennbericht Deutsche Meisterschaft Erfurt

Beitrag von Mike_W » Fr 1. Jul 2016, 09:59

Ein toller Bericht und ein sehr gutes Ergebnis für Dich. Ich freue mich das Du in diesem Jahr für das Cycling Team Sachsen fährst und die Jungs mit deiner Erfahrung unterstützt. Vielleicht kommt ja irgendwann ein Deutscher Meister aus Sachsen.


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cl
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Re: Rennbericht Deutsche Meisterschaft Erfurt

Beitrag von cl » Fr 1. Jul 2016, 14:06

Chelm hat geschrieben:Nach 2 Stunden dauerdrücken mit ca. 250 W wahr es einigen Fahrern dann wohl langsam zu viel. So kam es ab jetzt vermehrt zum Wegbröckeln auf der Windkante.
Rein in diesem Zahlenfenster gesehen gibt es (mehr als nur ?) eine Hand voll Fahrer hier aus dem Forum, die das weiter hätten drücken können. :denk:

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Re: Rennbericht Deutsche Meisterschaft Erfurt

Beitrag von mi67 » Fr 1. Jul 2016, 16:22

cl hat geschrieben:Rein in diesem Zahlenfenster gesehen gibt es (mehr als nur ?) eine Hand voll Fahrer hier aus dem Forum, die das weiter hätten drücken können. :denk:
Rein nach der gelebten Realität gibt es wohl kaum einen zweiten Fahrer im Forum, der das was dort gefordert war, ebenfalls hätte drücken können.
Unter dem Euphemismus des "Dauerdrückens" solltest Du Dir lieber keine glückselig-gleichmäßigen 250 W vorstellen. ;)
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Re: Rennbericht Deutsche Meisterschaft Erfurt

Beitrag von Erdnah » Fr 1. Jul 2016, 16:31

Danke für den Bericht, Chelm!

@cl
Die genannten Durchschnittswattzahlen verleiten dazu, an "das erscheint machbar" zu denken. Das ist aber idR eine Fehleinschätzung, da sie Durchschnittsleistung nahezu ohne Bedeutung ist.
Ich denke daher, die aktuelle RRL Truppenstärke spiegelt die Realität gut wieder: 1 RRL Mitglied schafft es an den Start und durch die komplette Distanz.

@ chelm
Chapeau! Das muss ziemlich irre gewesen sein!

Erdnah

edit: Michele war schneller.... passt auch im übertragenen Sinne perfekt!
Fahn ma mal schneller!
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Re: Rennbericht Deutsche Meisterschaft Erfurt

Beitrag von peso » Fr 1. Jul 2016, 20:41

Ja, wieder schöner Einblick in deinen Einblick in radsportliche Parallelwelten. :hut:

Hübsch die Einschätzung, selbst kein Radrennen gefahren zu sein, sondern eben vier Stunden mittrainiert haben zu dürfen. :D
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"Ich bin in diesem Jahr auf noch keiner Ausfahrt schneller als 24 km/h im Schnitt gewesen." (Anonymer Radfahrer, 2005)

"Treffpunkt ist jedenfalls 05:30 an der Uniklinik." (Good old Times)

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Re: Rennbericht Deutsche Meisterschaft Erfurt

Beitrag von sippe » Fr 1. Jul 2016, 23:11

Schöner Bericht, Danke! Hört sich irgendwie nach einer Art Mannschaftszeitfahren an ;-)
"will halt auch dabeigewesen sein"-Fahrer :-D

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Re: Rennbericht Deutsche Meisterschaft Erfurt

Beitrag von SXHC » Sa 2. Jul 2016, 01:34

Danke Chelm! :hut:

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